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Aus der ZeitschriftAsyl 4/2023 | S. 2–2Es folgt Seite №2

Die Unterbringung spielt eine Schlüsselrolle für die Integration

Wer nicht ein eigenes Haus oder eine Wohnung besitzt, wird sich vermutlich früher oder später mit Sorgen über steigende Mietkosten, eine Vertragskündigung, lange Arbeitswege oder unumgängliche Schulwechsel für die Kinder konfrontiert sehen. Je geringer der Handlungsspielraum, desto einschneidender die Herausforderungen für die Alltagsbewältigung sowie die Berufstätigkeit, Bildung und soziale Teilhabe. Dies gilt für die inländische Bevölkerung ebenso wie für Geflüchtete, auch wenn letzteren nach der Ankunft in der Schweiz vorerst eine Unterkunft zugewiesen und finanziert wird: Oft kennen Personen aus dem Asylbereich infolge von Aufenthaltsstatuswechseln, Zentrumsschliessungen und anderen (institutionellen) Sachzwängen besonders bewegte Wohnverläufe.

Unter den Asylsuchenden, die Sozialhilfe beziehen, wohnten 2021 – noch vor dem jüngsten Anstieg der Asylanträge und Ausbruch des Ukrainekriegs – knapp zwei Drittel in Kollektivunterkünften (BFS, Sozialhilfeempfängerstatistik). Bei vorläufig Aufgenommenen war dieser Anteil um die Hälfte tiefer und bei Personen mit Flüchtlingsstatus betrug er ein Zehntel, wobei die Zahlen je nach Aufenthaltsdauer oder Wohnkanton stark variieren können. Trotzdem dürfte unbestritten sein, dass Privathaushalte die optimale Unterbringungsform für die meisten Menschen sind, unabhängig ihres Hintergrunds und Aufenthaltsstatus. Allerdings gibt es organisatorische und finanzielle Notlagen oder spezielle Lebenssituationen, in welchen sich Kollektivunterkünfte aufdrängen oder kurzfristig als zielführend erweisen können. Jedoch sind solche Unterbringungsformen insbesondere für die sprachlich-berufliche Entwicklung, die soziale Integration und autonome Lebensgestaltung erwiesenermassen ungeeignet.

Umso mehr erstaunt, wie wenig Aufmerksamkeit der Unterbringungsfrage in Fachkreisen und empirischer Forschung in der Schweiz bisher geschenkt wurde – zumindest, wenn man von der berechtigten Frage absieht, unter welchen Umständen Schutzsuchende vorübergehend in unterirdischen Anlagen einquartiert werden können oder sollen. Noch überraschender ist, dass in den meisten Kantonen weder verbindliche Mindeststandards für die generellen Unterbringungs- und Betreuungsmodalitäten in Kollektivunterkünften noch welche für Personen mit besonderen Bedürfnissen und Rechten bestehen. Diese Feststellung ist aber keineswegs als Misstrauensvotum gegenüber Behörden oder Leitenden von Asylzentren zu verstehen, die vielerorts ausgezeichnete Arbeit leisten.

Vielmehr ist grundsätzlicher Handlungsbedarf im Interesse aller beteiligten Parteien angesagt: Er besteht darin, eine breite und ergebnisoffene Auseinandersetzung darüber anzustrengen, wie Integrationshindernisse abzubauen und eine möglichst inklusive Unterbringung zu gestalten sind. Interessante Diskussionsgrundlagen zu diesem Thema liefern vereinzelte Studien und Aktionsforschungen aus Bern, Genf, Freiburg, Waadt und Wallis, die neben der Verwaltungsperspektive und Position der Sozialarbeit auch die Betroffenensicht sowie individuelle Wohn- oder Integrationsverläufe von Schutzsuchenden näher beleuchten. Ausserdem sind sie ebenfalls hinsichtlich der – in Kollektivzentren unumgänglichen – Begleitung der geflüchteten Erwachsenen sowie der Betreuung von Kindern und anderen vulnerablen Personen relevant. Zusätzlich zu den vorliegenden Beiträgen in diesem Heft bietet es sich an, die aufgeworfenen Fragen und entsprechenden Studienerkenntnisse in einer der nächsten Ausgaben von Asyl erneut aufzugreifen, mit einem Fokus auf Kinder, Jugendliche und unbegleitete Minderjährige. Als besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang dürften sich auch vertiefende Analysen der Begleitung von Gastfamilien und Zusammenarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bei der Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine erweisen.