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Aus der ZeitschriftAsyl 2/2021 | S. 2–2Es folgt Seite №2

Die Genfer Flüchtlingskonvention: So wichtig wie noch nie!

Der Zweite Weltkrieg hinterliess neben Tod und Zerstörung auch Millionen von vertriebenen Menschen. Tausende Schutzsuchende waren zudem während des Krieges an nationalen Grenzen abgewiesen und zurück in den Tod geschickt worden. Die internationale Staatengemeinschaft hatte beim Schutz dieser Menschen versagt. Daraus entstand der Wunsch, dass solches nie wieder passieren und Flüchtlinge einen internationalen Anspruch auf Schutz haben müssten.

Das Trauma des Zweiten Weltkrieges hat die Entstehung der Genfer Flüchtlingskonvention also sehr stark geprägt. Sie ist aber auch heute noch, 70 Jahre später, das wichtigste Instrument des internationalen Flüchtlingsschutzes und wurde von 146 Staaten ratifiziert. Dank ihr haben wir einen Grundkonsens, wer als Flüchtling gilt und welche Pflichten die Staaten im Umgang mit Flüchtlingen haben.

Der Kern des Flüchtlingsschutzes ist das Non-Refoulement-Prinzip. Kein Flüchtling darf in einen Staat zurückgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit gefährdet wären. Dieses Prinzip gilt inzwischen – soweit es um Folter und unmenschliche und grausame Behandlung geht – als Teil des zwingenden Völkerrechts und wurde in verschiedene andere internationale Verträge, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention aufgenommen. Heute zählen wir eine Vielzahl bewaffneter Konflikte und fast 80 Millionen Vertriebene, darunter etwa 26 Millionen anerkannte Flüchtlinge – ein trauriger Rekord! Das UNHCR spricht von einem «Jahrzehnt der Vertreibung». Die Genfer Flüchtlingskonvention wird also noch dringend benötigt, ja sie ist so wichtig wie noch nie. Wir dürfen daher in unserem Engagement für sie keinesfalls nachlassen!

Zugleich kann sie uns aber natürlich nicht alle Antworten liefern. Eine der grössten politischen Herausforderungen unserer Zeit ist die gerechte Verteilung der Verantwortung zwischen den Aufnahmestaaten. Die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge und Vertriebenen hält sich nämlich in wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern auf, in denen oft ohnehin akute Nahrungsknappheit herrscht und die auch vom fortschreitenden Klimawandel stark betroffen sind. Es besteht heute die reale Gefahr, dass die bestehenden Konflikte mit den Auswirkungen des Klimawandels und der globalen Pandemie zusätzlich verschärft werden, was die globalen Vertreibungen weiter anheizt.

Auch wenn sie von direkten Kriegshandlungen verschont blieb, so war auch die Schweiz der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt vom Trauma des Krieges und engagierte sich für einen besseren Flüchtlingsschutz. Die Schweiz hat die Flüchtlingskonvention 1955 ratifiziert und setzt sich bis heute aktiv für den Flüchtlingsschutz ein. Die Asylgewährung und das Non-Refoulement-Prinzip sind in der Bundesverfassung verankert und das schweizerische Asylwesen wurde auf der Grundlage der Flüchtlingskonvention stetig weiterentwickelt. Ein eigentliches Asylgesetz gibt es seit 1979, im Vergleich zu heute war es ein eher rudimentärer Erlass. Im Jahr 1985 wurde das Asylwesen mit der Schaffung des Delegierten für das Flüchtlingswesen aus dem Bundesamt für Polizei herausgelöst. Damit setzte auch eine zunehmende Professionalisierung ein, welche bis zum heutigen Staatssekretariat für Migration führte. An die Stelle von Aktenentscheiden trat ein Instruktionsverfahren mit einer persönlichen Anhörung. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war die Einberufung der Schweizerischen Asylrekurskommission (ARK) im Jahr 1992. Sie hat die Asylpraxis entscheidend mitgeprägt und wesentlich zu einem fairen Asylverfahren und damit auch zu einem besseren Flüchtlingsschutz beigetragen. Im Jahr 2007 wurde sie in das Bundesverwaltungsgericht integriert. Seit der Einführung der beschleunigten Verfahren im März 2019 wird Asylsuchenden in den Zentren des Bundes ab Beginn des Verfahrens eine unentgeltliche Rechtsvertretung zugewiesen. Dies ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für das neu strukturierte Asylverfahren und stellt sicher, dass die Verfahren rasch und fair durchgeführt werden können. Ein solcher, staatlich finanzierter Rechtsschutz wäre bis vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen. Zudem haben Bund und Kantone in den letzten zwanzig Jahren die Bemühungen für die Integration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen fortlaufend intensiviert, letztmals im 2018 mit Einführung der Integrationsagenda. Auch dies ein ganz bedeutsamer Schritt. Der Erfolg unseres Asylsystems hängt auch davon ab, dass es uns gelingt, die Menschen, die in der Schweiz Schutz erhalten haben, in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Die Schweiz beteiligt sich auch bei der Wiederansiedlung von anerkannten Flüchtlingen und pflegt eine sehr enge Zusammenarbeit mit dem UNHCR, dessen Hauptsitz sie ja beherbergt. Sie engagiert sich auch im Ausland für eine Stärkung des Flüchtlingsschutzes, etwa am Horn von Afrika, in Nordafrika oder im Mittleren Osten, aber auch in Griechenland. Eine erfolgreiche und nachhaltige Flüchtlingspolitik muss heute neben der nationalen auch die europäische und globale Ebene abdecken, sonst wird sie scheitern.

Ich bin stolz darauf, dass ich in meinem Berufsleben einen Beitrag zur Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention leisten darf. Als ich im Mai 1985 als einer der ersten «Asyljuristen» bei der Berner Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende begonnen habe, stand das schweizerische Asylverfahren in den Kinderschuhen. Es stellten sich eine Vielzahl von grundsätzlichen rechtlichen Fragen und es herrschte eine Aufbruchstimmung.

Die kritische Auseinandersetzung mit der behördlichen Praxis erfolgte unter anderem über wissenschaftliche Aufsätze in der Zeitschrift ASYL, die ich im Jahr 1986 mitbegründet habe und deren aktuellste Ausgabe Sie nun in den Händen haben. Heute – kurz vor dem Ende meiner Amtszeit als Staatssekretär des SEM – blicke ich mit grosser Dankbarkeit auf eine bewegte und bewegende Zeit zurück. Ich wünsche allen «Aktiven» und Engagierten weiterhin viel Kraft, Empathie und Durchhaltevermögen! Ihr Einsatz für Flüchtlinge und die Flüchtlingskonvention ist ungebrochen wichtig.